Suizidalien by Jörg Bergstedt

Suizidalien by Jörg Bergstedt

Autor:Jörg Bergstedt [Bergstedt, Jörg]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman, Utopie, Gefängnis, Selbstmord
Herausgeber: SeitenHieb
veröffentlicht: 2015-06-30T22:00:00+00:00


Donnerstag, 11.30 Uhr

Irene jubelte. Sie hatte ihren heiß ersehnten Tag mehr Zeit. Ob genau ein Tag bzw. ein paar Stunden mehr oder weniger, das hing davon ab, wie schnell sich heute die Nummern erhöhten. Doch in den nächsten Stunden würde das Irene erstmal nicht mehr interessieren. ‚Heute abend gucke ich mal wieder hin‘, beruhigte sie sich und begann zu überlegen, was sie mit der Zeit anfangen wollte. Im Kopf hatte sie zunehmend Trauer getragen, einige spannende Menschen nicht mehr kennenlernen zu können. Nun würde es diese Gelegenheit doch noch geben. Vor allem die Sache mit dem Gefängnis. Das würde sie nun als Erstes machen. Was aber, wenn die Person schon gar nicht mehr hier wäre? Irene stockte der Atem. Das Wissen und die Erlebnisse, die sie jetzt so interessierten – einfach weg, weil tot?

Irene rannte zur Säule und schaute sich von dort um. Dann ein erleichterter Gesichtsausdruck: Sie entdeckte die alte Frau wieder. Sofort ging sie zu ihr. „Ach, du kommst ja doch noch. Ich hatte schon nicht mehr mit dir gerechnet“, wurde sie mit etwas Spott, aber freundlicher Stimme empfangen. „In zwei, drei Stunden ist für mich Schluss.“ „Oh“, zog sich Irene gedanklich ein bisschen zurück. „Da willst du sicherlich nicht jetzt mit mir über Vergangenes reden.“ „Doch. Ich hätte es sogar schade gefunden, wenn du nicht mehr gekommen wärest.“ „Warum?“ „Na, weil es doch nichts Schöneres gibt, als dass sich Menschen für etwas interessieren.“ „Ja, das stimmt schon – aber du gibst es an mich weiter. Für einen Tag, dann bin ich auch tot.“ Die alte Frau legte den Kopf etwas schräg: „Das kommt vor – irgendwas kann immer passieren.“ Nach einer Pause dann: „Lass uns reden. Komm‘ mit rüber zum Sofa. Oder hast du einen anderen Wunsch?“ „Nein, nein. Das ist schon gut so.“ Irene war beeindruckt und sehr dankbar, dass die Frau ihr ihre letzten Stunden schenken würde. Beide schlenderten ein paar Meter über den Platz und ließen sich dann in das im Freien stehende Sofa fallen. „Was willst du wissen?“ Irene überlegte: „Eigentlich alles.“ Die alte Frau lachte: „Dafür wird die Zeit wohl nicht reichen.“ Irene zuckte mit den Achseln. „Gefängnisse sind eine ganz andere Welt. Der Knast funktioniert nach völlig eigenen Regeln. Einer ganzen Menge absurder, komplexer Regeln. Jedes Detail folgt einem Plan, einer Verordnung, zu jeder Kleinigkeit gäbe es unendlich viel zu berichten“ „Gut“, entgegnete Irene, „es geht mir ja auch gar nicht so um die Details. Was war das Besondere, also das Prägende? Ich meine, für die Gefangenen.“ „Hmmm, … da gibt es Mehreres. Ich denke, ein ganz zentraler Punkt war die Zeit. Die Tage waren ohne Besonderheiten, die Stunden schlichen nur ganz langsam dahin. Das war die eine Seite. Die andere: Die Menschen waren in den kurzen Momenten außerhalb ihrer Zellen ständig gestresst und haben versucht irgendwelche kleinsten Verbesserungen der Lebensbedingungen zu erreichen – Kleingeld für das Münztelefon eintauschen oder Tabak besorgen oder Briefmarken. Das ist der Kern aller Aktivität, die im Knast abläuft. Dabei gleicht ein Tag dem anderen. Du weist eigentlich schon, was du in zwei Jahren machen wirst – und bis dahin.



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